100 Jahre Gelbes Trikot

100 Jahre Gelbes Trikot

Die Geschichte des Trikots

Um anzufangen, ein kleines Spiel. Stellen wir uns im Geiste die Szenerie eines finalen Podiums der Tour de France vor. Führen wir uns die Attribute eines Gesamtsiegers vor Augen. Was hält er in seinen Händen? Einen Strauß gelber Blumen, jawohl. Und auch einen Plüsch-Löwen, Maskottchen eines größeren Partners der Veranstaltung. Ist das alles? Nein. Ebenso eine ansehnliche Trophäe mit vernünftigen Abmessungen. Eine Keramikvase aus der Manufaktur von Sèvres bei Paris. Auf Wunsch von Valéry Giscard d'Estaing 1975, damals der Erste unter den Franzosen. Er hatte Angst, bei der Eröffnungs-Ankunft der Tour auf den Champs-Élysées mit leeren Händen dazustehen. Seitdem ist niemals wieder ein Präsent der Republik dort hingekommen. Die Vase, erstmals an Bernhard Thévenet überreicht, ist geblieben.

Ihre Präsenz ist nur eine Anekdote. Die wahre Trophäe des Siegers bei der schwierigsten Prüfung der Welt, die jedes Jahr rund um den Planeten verfolgt wird, ist ein Stück Stoff. Das Gelbe Trikot, das Tag für Tag den Spitzenreiter im Gesamtklassement anzeigt, wie es 1919 Henri Desgrange gewollt hat, Vater und Gründer der Tour 16 Jahre zuvor. Das Gelbe Trikot, das in Paris den Gesamtsieger kenntlich macht. Das Gelbe Trikot, universelles Emblem, Gral des Radsports, Wachtraum des Monats Juli.

Bei den größten Sportereignissen existiert nur noch ein einziges weiteres Beispiel desselben Rangs: die Grüne Weste, die der Vorjahressieger seinem Nachfolger am Ende des Golf-Masters in den Vereinigten Staaten seit April 1949 überstreift. Daneben gibt es nichts besonders Prestigeträchtiges in dieser Größenordnung, es sei denn Olympisches Gold. Nicht mal die goldgrüne Tunika der brasilianischen Fußballauswahl, und auch nicht das mit lilafarbenen Elementen besetzte Trikot der Basketballmannschaft Los Angeles Lakers.

Dieses Jahr wird das Gelbe Trikot 100 Jahre alt. Es ist unmittelbar nach dem Waffenstillstand von 1918 erschienen, und das ist bedeutsam. Die Tour de France, die auf den Waffenstillstand folgt, ist ein Symbol, und oft haben die Menschen in den intensivsten Momenten die schönsten Ideen. Aber dieser sportliche Wettkampf ist schrecklich: Als Eugène Christophe sich in Grenoble, fünf Etappen vor Paris, erstmals in diesem Symbol der Unterscheidung sieht, einem ein wenig verwaschenen Trikot, hat er nur noch zehn Fahrer an seiner Seite. Der Regen, die Kälte, mechanische Defekte und sogar Spätfolgen von im Ersten Weltkrieg erlittenen Verletzungen haben die 50 anderen niedergerungen. Das Gelbe Trikot von Firmin Lambot in Paris gibt sich diskret: Das Journal L'Auto, das ihm seine Farbe gab, erwähnt die Sache nur dreimal.

Was für ein Kontrast zu den Berühmtesten und Leistungsfähigsten am Ende eines Jahrhunderts Tour-Geschichte. Eddy Merckx, der Größte. 96 Tage, mehr als drei Monate seines Lebens, mit dem Trikot auf den Schultern. Und dann 1969, über die Pässe Tourmalet, Souor und Aubisque hinaus 140 Kilometer im Alleingang als größte im Juli von einem Champion in Gelb vollbrachte Leistung. Man kann Merckx leicht Bernard Hinault und seine phänomenale Statistik gegenüberstellen: Nicht eine einzige seiner acht von 1978 bis 1986 bestrittenen Tour-de-France-Teilnahmen ohne wenigstens einen Tag in Gelb! In ihrem Gefolge eine Traum-Ausreißergruppe: Jaques Anquetil, Miguel Indurain, Louison Bobet, Greg LeMond und schließlich Chris Froome, alle abonniert auf das Tragen der geheiligten Tunika.

Bleiben all die anderen. Darunter große Champions und die Bescheidensten, 270 Männer, die gelacht und brilliert haben, dahingeglitten sind, geträumt, riskiert, gelitten und geweint haben. Ottavio Bottecchia war 1924 so glücklich, dass er im Zug nach Venedig sein letztes Gelbes Trikot unter seiner Jacke trug. Auch Jean Robic und Jan Janssen waren umwerfende Preisträger am letzten Tag, aber es gab auch die großen Pechvögel wie Luis Ocaña zum Beispiel 1971, wohlgemerkt, der Märtyrer vom Col de Menté, später Erbe von Christophe 1919, dem zwei Tage vor Paris die Gabel brach. Laurent Fignon natürlich, der 1989 um acht Sekunden seiner dritten Krönung auf den Champs-Èlysées verlustig ging. Hatte er nicht selbst 1983 vom Pech von Pascal Simon profitiert, der am Tag nach seiner Machtergreifung in den Pyrenäen verunglückte? Hat das Gelbe Trikot etwa ein Gedächtnis?

Es ging jedenfalls manchmal nur nach seinem Kopf, indem es das Unerwartete zeitigte (Bakelants, Gerrans und Impey 2013) oder Champions großer Bedeutung naherückte (Cavendish, Sagan und Van Avermaet drei Jahre später). "Mit dem Gelben Trikot tritt der Fahrer in eine Geschichte ein, die größer ist als er", notierte im Sommer 2016 treffsicher der Journalist und Sammler Serge Laget in der Wochenzeitung Le Un. Von Darrigade bis Voeckler, von Altig bis Kittel, von Simpson bis Wiggins, von Lambot bis Boonen, von Guerra bis Nibali, es hat alle Grenzen überschritten und dank Froome, dem weißen Kenianer, alle Kontinente bis Afrika erreicht. Wie aber hat es Raymond Poulidor ignorieren können, der es dermaßen umwarb, dem es nahe kam und ihn selbst eines nachts in dem Zimmer begrüßte, das er 1968 mit Jean-Pierre Genet teilte?

"Lasst uns dieses Emblem, das die Tatkraft des Menschen in unserer Zeit personifiziert, immer lieben und respektieren, das Emblem, das auch ein Symbol für die Anstrengungen des Gewinners unserer Tour ist", schrieb einfühlsam Jacques Goddet, der Erbe von Desgrange. Er war 95 Jahre alt, als er im Dezember 2000 verstarb. Der 271ste Mann in Gelb, der seit 2012 nicht mehr dabei ist, hatte die beiden ersten seiner sieben Siege ohne Skrupel und ohne andere teilhaben zu lassen errungen. Konnte Goddet sich vorstellen, dass ein Champion der Größenordnung eines Lance Armstrong in dieser Hinsicht hätte Verrat begehen können?

Muss das Gelbe Trikot solide Maschen haben, um so viel Schmähung und so vielen Podien zum Vergessen widerstehen zu können! Armstrong, Landis 2006, Contador 2010... Eins ist sicher - ganz allein hätte eine Vase aus Sèvres das nicht überstanden.

(Auszug aus dem Buch "Das Gelbe Trikot" von Claude Droussent - ISBN: 978-3-667-11048-0)